Der Wert von Schrift und Schriftkunst
Schreiben mit der Hand ist wichtig für die menschliche Entwicklung. Das ist das Thema des Tags der Handschrift und auch ein roter Faden, der sich durch die Bildung in Ostasien zieht. In China galt die Kunst des Schreibens mit der Hand als höchste menschliche Entwicklung: eine Kunstform, die alle anderen Künste, wie Malerei oder Bildhauerei, übertraf. Dabei ging es nicht darum, eine „schöne Schrift“ zu schaffen, sondern einen Stil zu entwickeln, der die Persönlichkeit des Schreibers widerspiegelt. Man glaubte, je stärker die Persönlichkeit, desto bemerkenswerter die Handschrift. Selbst Fehler und gelöschte Abschnitte wurden als Zeichen spontaner Kreativität gesehen. Es gibt wichtige Parallelen zum vorliegenden Buch: das heißt, Handschrift muss nicht den Schönheitsstandards eines Lehrbuchs entsprechen – sie muss vielmehr der persönliche Ausdruck der oder des Schreibenden sein und eine ausgeprägte Persönlichkeit hinter der Feder zeigen. Und wichtig ist, dass – wie die alten Chinesen betonten – der persönliche Stil nur durch wiederholtes Schreiben entwickelt werden kann. Wichtig ist nicht nur, was geschrieben wird, sondern auch, wie es geschrieben wird.
Mit dem Aufkommen von Computern, Smartphones und anderen elektronischen Hilfsmitteln, die das Schreiben für uns übernehmen, ist die Kunst des Schreibens mit der Hand im Niedergang begriffen. Das gilt sowohl im Westen als auch im Osten. Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Die Handschrift mit dem Pinsel wird zum Beispiel noch in japanischen Grundschulen gelehrt, und Wettbewerbe und Ausstellungen dazu sind in allen drei großen ostasiatischen Kulturen immer noch an der Tagesordnung. Im Mittelpunkt stehen nach wie vor Pinsel, Tinte und Papier: Die Formate, Stile und die Werkzeuge, selbst die koordinierten Bewegungen von Arm, Handgelenk und Hand haben sich über die vielen Jahrhunderte nicht wesentlich verändert.

Prof. Dr. Hans B. Thomsen
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Handschrift
Während die jungen ostasiatischen Tintenschreibschülerinnen und -schüler sich auf eine 2.000 Jahre alte Tradition stützen und sich von ihr inspirieren lassen können, gibt es auch einen erheblichen Nachteil: Von einem funktionstüchtigen Erwachsenen wird erwartet, dass er in Japan über dreitausend und in China
vier- bis fünftausend Schriftzeichen kennt. Wenn wir das mit unseren 26 Buchstaben vergleichen, können wir die Schwierigkeiten ostasiatischer Schülerinnen und Schüler erahnen. Dennoch zeigt dies die Wichtigkeit: dass trotz solch erheblicher Hindernisse immer noch großer Wert auf das Erlernen des Schreibens mit der Hand gelegt wird. Davon können wir im Westen sicherlich lernen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Kinder zu denkenden, aktiven Mitgliedern der Gesellschaft erziehen können.
Der Tag der Handschrift versucht, wie unsere ostasiatischen Kolleginnen und Kollegen, den Schwerpunkt wieder auf die alten Fähigkeiten des Schreibens mit der Hand zu legen, auch in einer Welt, die von modernen technischen Innovationen umgeben ist.
Prof. Dr. Hans B. Thomsen
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Handschrift